Es ist der 26.10.2020, etwas nach zehn Uhr morgens. An diesem Tag geht es um vierundzwanzig Menschen, die während der NS-Zeit unter Hitler und seinem Regime gelitten haben. Sie alle erhalten heute an einem bestimmten Platz hier in Trier einen Stolperstein, damit auch in Zukunft an sie gedacht wird – und die damit verbundene Qual.
Gemein haben sie ihre Schule: Das königliche Kaiser-Wilhelm-Gymnasium, das bereits 1822 gegründet wurde. Aus ihm gehen die heutigen Humboldt- und Max-Planck-Gymnasien hervor (HGT und MPG), die diese Veranstaltung unter anderem mitorganisiert haben.
Im Rokokosaal des kurfürstlichen Palais tritt Ruhe ein, als Schüler*innen beginnen den ersten Namen vorzulesen. Es handelt sich um Dr. Peter Lackas, ein Lehrer, der sich während der Regierungszeit des NS-Regimes weigerte, der NSDAP beizutreten. Stattdessen argumentierte er religiös und verneinte die Frage eines damaligen Sechstklässlers, ob Selbstmordeinsätze von Soldaten „für das Vaterland“ erlaubt seien. Zwei Tage später wurde er von der Gestapo verhaftet. Nach mehreren Gefängnissitzungen und harter Arbeit im Straßenbau erkrankte Lackas schwer – und wurde somit dienstunfähig. Er konnte seinem Beruf nie wieder nachgehen. Lackas ist eines der Opfer, die dem Nationalsozialismus nicht entgehen konnten. Heute gedenken wir ihm – und dreiundzwanzig weiteren Menschen, die aufgrund ihrer Religion, politischen Einstellung und/oder Sexualität verfolgt wurden. Einige flohen und kehrten später zurück. Viele wurden ermordet. Sie alle sollen durch die neuen Stolpersteine des Künstlers Gunter Demnig gesehen werden. Nach der Vorstellung von Peter Lackas, Hans Hirsch, Sigmund Loeb, Leo Haas und Siegfried Schwarz spielt das Orchester des HGT. Die Musik ist eindringlich. Die eben erwähnten Opfer konnten aus ihrer Gefangenschaft befreit werden, nicht aber von ihren Erinnerungen. Eine Begrüßung der Anwesenden durch den ADD-Präsidenten Thomas Linnertz erfolgt.
Schüler und Schülerinnen des MPGs stellen weitere Opfer vor – jene, die nicht entkommen sind, sondern ermordet wurden. Diese Liste ist deutlich länger. André Hoevel, der durch einen Ausschnitt des Filmes „Nackt unter Wölfen“ besonders prägend Eindruck hinterlässt, denn die Bilder machen ihn lebendig – und die damalige Zeit. Trotz einer langen KZ-Haft schloss er sich, gemeinsam mit seiner Frau, 1938 einer Widerstandsbewegung an, wurde 1941 entdeckt und verhaftet und am 28. August 1942 hingerichtet. Josef Kasel und Eduard Haas sind beide Juden. Ersterer arbeitete erfolgreich als Ingenieur. Letzterer hatte durch ein Ehrenkreuz für Frontkämpfer (im Namen Adolf Hitlers 1935) und einer damals arisch geltenden Frau sowie einer Taufe eigentlich nichts zu befürchten und musste bis 1941 sogar noch nicht einmal einen Stern tragen. Sein außergewöhnlicher Mut verhinderte ein sicheres Leben jedoch, denn von Köln aus verhalf er Juden zur Flucht. Harry Isay, Walter Richard und Moritz Kahn sind weitere Opfer, die in KZ-Lagern ermordet wurden. Die Zwillinge Ernst Simon Salomon und Leo Gustav Salomon haben viele Gemeinsamkeiten. Die wohl gravierendste neben ihrer Religion – dem Judentum – ist ihre Sexualität: Sie sind schwul. In den damaligen Zuständen war an eine freie Auslebung nicht zu denken. Als die Brüder entdeckt wurden, kamen sie nicht nur ins Gefängnis, sondern wurden zudem noch als Forschungsobjekte missbraucht. Leo starb an Tuberkulose im Gefängnis – die medizinische Versorgung war miserabel und die Lebensumstände schlecht. Ernst wurde nach Ausschwitz deportiert und ermordet. Simon Salomon – ein offener und neugieriger Mensch, der an sechs Universitäten in ganz Deutschland studierte, sowie auch Ernst Schneider wurden beide in Konzentrationslagern umgebracht.
Schüler*innen des HGTs stellen danach das Gedicht „Todesfuge“ von Paul Celan vor, welches die organisierte Judenvernichtung während dieser Zeit thematisiert. Sie stehen im ganzen Saal und sprechen mehrstimmig, mal gleichzeitig, dann im Kanon, mal laut, mal leise. Alle hören zu. Nach einer Weile fühlt man sich erschlagen und erschöpft. Dieser Ansatz soll dazu anregen, auch nur eine leise Ahnung von dem zu bekommen, was die Juden und andere Minderheiten damals durchmachen mussten. Dass genau so etwas nie wieder passieren soll, erklärt der Bürgermeister Wolfram Leibe in seiner darauffolgenden Rede. Es ist wichtig, dass man den Getöteten ein Gesicht gibt und ihren Schmerz ausdrückt über die Kunst – sie erreicht und berührt den Menschen. Noch bedeutender für Herrn Leibe ist, dass die Schüler*innen „Flagge“ zeigen. Sie positionieren sich als Individuen in der Masse – in der Gesamtheit – und beweisen Haltung, Mut und eine kritische Selbstbetrachtung. Es erfolgt Musik des Orchesters und vor dem Videogruß der Ministerpräsidentin Malu Dreyer und dem Dank durch den Schulleiter des MPGs Herrn Huber (Herr Stiller fällt durch Krankheit aus) werden die Geflüchteten von Schüler*innen des HGTs vorgestellt. Peter Marx, der die St. Martin-Kirche entwarf und 1933 nach Rom emigrierte. Walter Sender und Heinrich Baßfreund.Emil Frank. Josef Lazarus, der vermeintlich in Ausschwitz getötet wurde, es jedoch schaffte, mit seiner Frau in die USA zu fliehen. Otto Wolfgang Loeb, der sich während der Weltwirtschaftskrise um das Theater in Trier kümmerte. Ernst Scheuer. Ihnen allen gelang es, durch Flucht zu entkommen. Wilhelm Boden und Johannes Hoffmann – ebenfalls Verfolgte – setzten sich mutig für Demokratie und den Frieden ein. Letzterer griff als Chefredakteur der „Saarbrücker Landeszeitung“ die Nationalsozialisten an. Später berichtete er im Radio in Paris über die Verbrechen des NS-Regimes. Beide halfen beim Wiederaufbau Deutschlands nach Ende des zweiten Weltkrieges 1945, indem sie zur Rechtsstaatlichkeit des Landes beitrugen.
Wie wichtig die Demokratie doch ist, betonen auch noch einmal Schüler*innen des MPGs. Zumindest die meisten in unserer Generation sind in einer friedlichen, mitmenschlichen Welt aufgewachsen, in der unsere Freiheitsrechte kostbar und vielfältig sind – und gegen Rassismus und Intoleranz. Es ist wichtig, dies beizubehalten und sich genau dafür einzusetzen. Zudem wird deutlich, was für eine große Bedeutung das Erinnern an die damalige Zeit für unsere aktuelle heutige eigentlich hat. Denn so lernen wir aus Fehlern unseres Landes und machen sie nicht noch einmal.
Abschließend geht es in die Böhmerstraße, in der die Stolpersteine in den Boden eingelassen werden. Der Bezug hierzu ergibt sich aus der bereits oben schon erwähnten Gemeinsamkeit der Opfer während des Nationalsozialismus. Sie alle gingen auf das Kaiserliche-Wilhelm-Gymnasium, das 1825 in das alte Karmeliterkloster einzog, welches sich in der Böhmerstraße befand. So soll ein persönlicher Bezug zu der Umgebung hergestellt werden.Neben Musik wird ein Teil des Gedichtes „Des Unschuldigen Schuld“ von Gerty Spies vorgelesen. Sämtliche Teilnehmer erhalten eine Rose, die jeder neben den Stolpersteinen ablegen und in diesem privaten Moment auf eigene Art und Weise den Menschen gedenken kann. Und so endet diese Gedenkveranstaltung ebenso wie sie begonnen hat: Mit würdigender Stille.
Text: Annika Franke, 11.Klasse, HGT
Bilder: Annika Franke und Jens Kornmüller (MPG)